No-Ad ist nicht genug: Auch das Einzel wird reformiert
Allein, die No-Ad-Regel reichte der ATP 2006 nicht. Vor allem den dritten, nur manchmal zu spielenden, entscheidenden Satz machte der Verband als volatile Unwägbarkeit aus, die es zu erschweren schien, TV-Partner vom Doppel zu überzeugen. Also entschieden sie sich, diesen dritten Satz komplett zu verändern. Das Fundament eines jeden Tennissatzes wackelte heftig: Denn anstatt den Sieg Punkt um Punkt und Spiel um Spiel zu erkämpfen, geht es seit 2006 für die Spieler auf der Doppel-Tour in den Match-Tiebreak, den verlängerten Tiebreak bis zehn. 2007 tat es die WTA der ATP gleich und auch in Deutschland wird mittlerweile – nicht nur im Doppel – in den meisten Ligen der dritte Satz als Match-Tiebreak ausgespielt.
Nachdem sich die ATP also Anfang der 2000er-Jahre des Doppels angenommen und anschließend die Zählweise einmal komplett auf links gedreht hatte, wandten sich die Funktionäre kurze Zeit später erst laut und dann plötzlich fast schon unauffällig dem Einzel zu. 2006 donnerte es noch gewaltig, als die ITF beim Hopman Cup im australischen Perth erstmals die modernste Tennistechnologie aller Zeiten aufbot: das Hawk-Eye. 2007 echauffierte sich Roger Federer in Wimbledon und forderte, das Hawk-Eye abzuschaffen. Mittlerweile akzeptiert, kommt es nun bei mehr als 80 Turnieren weltweit erfolgreich zum Einsatz.
Aktuell spricht das Hawk-Eye allerdings nur dann zu den Protagonisten, wenn ein Spieler seine Challenge nutzt, also aktiv darum bittet. Doch das könnte sich bald ändern. Denn nun beginnt die Technik, die traditionellen Linienrichter zu verdrängen. Statt Linienrichtern, die „Out!“ rufen, gibt nun das Hawk-Eye dem Stuhlschiedsrichter ein Signal, der daraufhin den Ball aus gibt. Das klingt wie Zukunftsmusik – ist es aber nicht. Denn das alles ist schon passiert: bei den von der ATP neu kreierten Next Gen ATP Finals.
Dieses Turnier der besten acht Spieler unter 21 Jahren ist nicht nur das Herzensprojekt von Chris Kermode, bis Ende 2019 Chef der ATP. Es ist vor allem eines: ein Versuchskaninchen. An ihm probiert die ATP neue und neueste Regeln aus. Neben der No-Ad-Zählweise – zum ersten Mal gilt diese im Profi-Einzel – und dem Hawk-Eye Live als Linienrichter ersetzende Technologie regnet es gleich ein Regelfeuerwerk: kürzere Sätze, No-Let, Shot Clock, kürzeres Aufwärmen, Spieler-Coaching, weniger Medical Time-Outs und eine „Free Movement Policy“ für Zuschauer. „Dieses Turnier wurde nicht nur für die nächste Spielergeneration, sondern auch für die nächste Zuschauergeneration entwickelt“, sagt Kermode.
Der frühere ATP-Chef ist stolz auf seine Ideen: Die Talente spielen bei den Next Gen Finals einen Satz nun nicht mehr bis sechs, sondern drei Gewinnsätze bis vier. Steht es 3:3, kommt es zum Tiebreak. Berührt der Ball beim Aufschlag die Netzkante, so heißt es: „No Let!“ – keine Wiederholung. Es geht einfach weiter. Zudem zwingt die Shot Clock die Spieler, innerhalb von 25 Sekunden aufzuschlagen. Lange Verschnaufpausen nach intensiven Rallies oder psychologisches Zeitspiel sind damit Geschichte.
All das, so hofft die ATP, verspricht mehr Unterhaltung. Und das ist auch der Sinn hinter den Experimenten mit den größten Tennistalenten. Denn wie in den 1960er-Jahren im Einzel und zur Jahrtausendwende im Doppel, versuchen die Tennisfunktionäre den Sport noch einmal fernsehtauglicher zu gestalten – und eine neue Generation Fans aufzuziehen. Gerade für die jungen Zuschauer führte die ATP bei den Next Gen Finals daher die „Free Movement Policy“ ein. Nerviges Warten am Eingang, bis das Spiel endlich entschieden ist? Das hat mit der neuen Regel ein Ende: Auf der Haupt- und Gegengerade können sich die Zuschauer bei den Next Gen Finals frei bewegen – und das zu jeder Zeit. Das, so hört man, kommt bei den Fans an.