Jimmy Van Alens Erbe: Darum gibt es das No-Ad Scoring

Mit der Einführung des Tie-Breaks fing alles an: Nun versucht die ATP mit dem Entscheidungspunkt und vielen anderen neuen Regeln, das Tennis vorhersehbarer zu machen. Eine Geschichte, die mit einer verwirrenden Zählweise beginnt: 15 - 30 - 40.

No Ad Scoring und 15 30 40 - Diese Tennisregeln verändern das Tennis

Von Tillmann Becker-Wahl, Illustration: Oona

Tennis spielen wir schon seit 100 Jahren auf die gleiche Art und Weise, richtig? Nein, oder besser gesagt: Das stimmt nur so halb. Nachdem die International Lawn Tennis Federation (heute ITF) die Regeln Anfang des vergangenen Jahrhunderts erst einmal festgelegt hatte, galten sie als fest in die Tenniswelt einbetoniert. Zumindest bis in die 1970er-Jahre. Dann folgte die erste Tennisrevolution der Neuzeit: der Tiebreak, und damit der langsame Beginn eines wahren Regelaufstands. Anfang der 2000er kramten die Tennisfunktionäre der ATP aus ihren Schubladen urplötzlich eine fast 40 Jahre alte Idee hervor: den Entscheidungspunkt. Erneut krachend traditionsbrechend. Doch mittlerweile ist diese sogenannte No-Ad Scoring Method aus dem Doppel nicht mehr wegzudenken. 2019 verkürzte sie die Zeit pro Spiel auf 3,69 Minuten. Aber ist das überhaupt entscheidend? Und wenn ja, ist das der Grund, warum sich der Entscheidungspunkt und weitere Neuerungen leise tapsend ins Einzel einschleichen? Eine Analyse.

Das Wichtigste in Kürze

1880 hielt der All England Club, Veranstalter des Wimbledon-Turniers, erstmals die für viele Jahrzehnte gültigen Regeln fest: Um einen Satz zu gewinnen, musste ein Spieler sechs Spiele für sich entscheiden. Stand es 5:5, so dauerte der Satz so lange, bis sich der erste Spieler zwei Spiele Vorsprung herausgespielt hatte. Warum allerdings in einem Spiel so komisch gezählt wird, ist bis heute nicht gänzlich geklärt. Dennoch: Die Regeln hielten sich 90 Jahre lang – bis Jimmy Van Alen das Tennis auf den Kopf stellte. Nach seiner Idee führte der Internationale Tennisverband (ITF) 1970 erstmals den Tiebreak ein. Die Zwei-Spiele-Vorsprung-Regelung war Geschichte. Der Grund dafür war, dass die Tennisfunktionäre das volle Vermarktungspotenzial des aufstrebenden Tennissports nutzen wollten.

Anfang der 2000er hielt plötzlich die sogenannte No-Ad Scoring Method Einzug ins Tennis. Statt Einstand gab es im Doppel auf einmal einen Entscheidungspunkt. Ging es trotzdem in einen entscheidenden dritten Satz, spielten die Doppelpaarungen fortan einen Match-Tiebreak. Die durchschnittliche Matchdauer verringerte sich dadurch um 16 Minuten. Zudem nahm die statistische Abweichung um diesen Mittelwert um fünf Minuten ab. Die durchschnittliche Zeit eines Spiels verringerte sich zudem um elf Sekunden, während sich die durchschnittliche Satzlänge um fast zweieinhalb Minuten verkürzte. Seit 2017 steht nun auch das Einzel auf der Probe.

Das Ergebnis: Auch dort reduzieren neue Regeln wie die No-Ad Scoring Method, verkürzte Sätze und die Shot Clock die durchschnittliche Match- wie auch Spieldauer signifikant, wie unsere Analyse der Saison 2019 zeigt. Eine Partie dauerte bei den Next Gen Finals durchschnittlich 92 statt den sonst auf der Tour üblichen 100 Minuten. Spiele verkürzten sich durchschnittlich sogar um 15 Sekunden. Auch die statistische Abweichung um diese Durchschnittswerte sank rapide. Das ermöglicht den Medienpartnern eine bessere Vorhersage der tatsächlichen Spieldauer – und der ATP ein besseres Vermarktungspotenzial. Für die Spieler selbst heißt das jedoch: Nun könnte ein einziger Rahmentreffer über ein Break- oder gar Matchball entscheiden.

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Leicht bewölkt und noch etwas frisch war es am Freitag, den 16. März 1923, als die International Lawn Tennis Federation (ILTF) die Official ILTF ‘Rules of Tennis‘ festgelegt hatte. Mausgrau und unbedeutend klingt das heute. Doch der Tag war entscheidend. Denn er prägt seitdem das Tennis, wie wir es größtenteils noch immer spielen. Aber der Reihe nach.

Die Mitglieder des ILTF mussten kämpfen. Schließlich waren die US-Amerikaner bitter enttäuscht. Denn als sich der internationale Tennisverband 1913 gründete, entschied er, unter Vorherrschaft des britischen Verbands, die „World Grass Court Championships“ zu veranstalten. Eine Sache, die, fragt man nach der Meinung der US-Amerikaner zu der Zeit, unerhört war. „World Championships“ – diesen Titel hatte schließlich nur der im Jahr 1900 entwickelte Davis Cup verdient. Ein Kompromiss musste her. Und dieser fand sich nun endlich an diesem Tag im März 1923.

Gemeinsam strichen die 15 nationalen Mitglieder des ILTF mit dem US-amerikanischen Tennisverband die „World Championships“. Ersetzt wurden sie durch vier Major-Turniere: in Australien, Frankreich, Großbritannien und den USA – die heutigen Grand Slams. Die US-Amerikaner waren zufrieden. Sie schlossen sich dem ILTF an und man einigte sich auf ein erstes gemeinsames Regelbuch. Es war jenes, das der britische Tennisverband 1888 veröffentlicht hatte. Den Grundstein dafür hatte der All England Club bereits 1877 gelegt – mit dem ersten Wimbledon-Turnier.

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Münzen, Uhren oder Spielfeldgröße: Warum zählen wir beim Tennis so komisch?

Bevor der All England Club 1877 sein erstes Rasenturnier in Wimbledon veranstaltete, hatte dieser vor allem eines: Geldsorgen. Um diese ein wenig zu lindern, entschied sich der einstige Croquet-Club, den gerade aufsteigenden Tennissport zu nutzen. Eintrittsgelder sollten dem All England Club helfen, sich aus der Misere zu befreien. Das Problem: Für ein solches Turnier mussten endlich einheitliche Regeln her.

Zwar gab es schon seit 1874 ein erstes, von Walter Clopton Wingfield patentiertes Rasentennis-Regelwerk. Doch sich daran auch zu halten – das taten nur die wenigsten Mitglieder der Rasentennis spielenden Oberschicht. Also bediente sich der All England Club bei verschiedenen, tennisähnlichen Spielen der damaligen Zeit. Von Wingfield übernahm der Verein die generelle Spielidee, änderte jedoch das zuvor sanduhrförmige Spielfeld in ein Rechteck. Die passende Zählweise fanden die Veranstalter im sonst zu komplizierten „Real Tennis“: 15 – 30 – 40 – Spiel.

Doch warum zählten die Real-Tennis-Spieler eigentlich so komisch? Der Grundstein liegt wohl im Spätmittelalter.

Zu dieser Zeit spielten die Franzosen das „Jeu de Paume“, einen Vorläufer des heutigen Tennis, auf einem 90 Fuß langen Feld. Gewann ein Spieler einen Punkt, so ging er 15 Fuß auf seiner 45 Fuß langen Seite in Richtung Netz – bis er an ebenjenem stand, um das Spiel für sich zu entscheiden. Andernorts heißt es, dass der Schiedsrichter aktuelle Spielstände auf einer Uhr anzeigte. Pro Punkt wanderte der Minutenzeiger 15 Minuten nach vorne. Ging es in den Einstand, habe der Schiedsrichter den Zeiger von 45 auf 40 Minuten zurückgestellt.

Wahrscheinlicher jedoch ist eine dritte Theorie. So spielten die Franzosen damals nicht nur um Punkte, sondern vielmehr um bares Geld. Ein Satz war entschieden, wenn ein Spieler vier Gros Deniers, Silbermünzen im Wert von je 15 Deniers, gewonnen hatte: 15 – 30 – 45 – 60, Satzgewinn. Da den Schiedsrichtern irgendwann die französische Zahl 45, quarante-cinq, zu lang wurde, sagten sie ganz einfach nur noch quarante, 40.

Am Ende ist es gleich, welche Theorie nun stimmt – die Zählweise übernahm der All England Club bekannterweise trotzdem für sein erstes Wimbledon-Turnier. Einen Satz gewann demnach derjenige Spieler, der zuerst sechs Spiele für sich entscheiden konnte. Stand es 5:5, verlängerte sich der Satz, bis ein Spieler einen Zwei-Spiele-Vorsprung herausgespielt hatte. Eine Zählweise, die ganz ähnlich wie die heutige ist – und sich 90 Jahre lang hielt. Bis sich schließlich 1970 das Spiel erstmals grundlegend veränderte.

Warum die Open Era den Tiebreak nötig machte

Schon in den 1960er-Jahren entbrannte eine wilde Diskussion zwischen den Spielern und der ITF. Seit dem 16. März 1923 durften bei den Grand Slams und den meisten anderen Turnieren nur Amateurspieler aufschlagen. 1968 erlöste der ITF die Profis: Erstmals ließ der internationale Tennisverband auch sie teilnehmen. Die Open Era entstand. Und die Veranstalter begannen damit, ihre offenen Turniere prominent auch als solche zu bewerben.

Die Folge: Nicht nur die Preisgelder schossen in die Höhe. Nein, vor allem erfreute sich der Sport nun einer immer größer werdenden Beliebtheit. Galt Tennis im vergangenen Jahrhundert noch lange als der Sport der Privilegierten, änderte sich das dank der Open Era schlagartig: Die Tennisvereine wuchsen weltweilt und die Medien entdeckten das von vielen nur als „Weißer Sport“ betitelte Tennis für sich. Plötzlich wollte jeder Tennis übertragen – und jeder wollte Tennis sehen. Nur die Ungewissheit hinderte letztlich viele daran. Denn sie fragten sich: Dauert der Satz 40 Minuten oder doch wieder zwei Stunden?

Diese Unklarheit stellte sich mit der Zeit als ermüdend heraus und die Fernsehsender hatten keine endlosen Kapazitäten. Logisch, es gab in vielen Ländern gerade einmal zwei oder maximal drei verschiedene TV-Anstalten. Und während die Zuschauer versuchten, den Kopf bis zum letzten Ballwechsel aufmerksam nach links und rechts zu schwenken, kämpften die Spieler gegen müde werdende Arme und Beine an. Die weltweite Vermarktung schien in diesem Moment an der Zwei-Spiele-Vorsprung-Regelung zu scheitern – bis ein ehemaliger, eher durchschnittlich erfolgreicher Tennisspieler aus den USA die entscheidende Idee hatte: den Tiebreak.

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Jimmy Van Alen schustert das Tennis fernsehgerecht

„Wenn es Herrn Van Alen nicht gegeben hätte, dann würden Michael und ich vermutlich noch immer da draußen spielen“, sagte Stefan Edberg am 5. Juli 1991 nach seiner Partie gegen Michael Stich in die Fernsehkameras.

Edberg hatte zuvor ein denkwürdiges Wimbledon-Halbfinale mit 6:4, 6:7 (5:7), 6:7 (5:7), 6:7 (2:7) gegen den späteren deutschen Turniersieger verloren – kurioserweise ohne dabei ein einziges eigenes Aufschlagspiel abgegeben zu haben.

Nur zwei Tage zuvor war er gestorben, James – genannt Jimmy – Van Alen. Als sei es vom Schicksal gewollt gewesen, zeigte die Partie zwischen Edberg und Stich nach dem Tod des Erfinders des Tiebreaks eindrucksvoll, warum vermutlich einzig diese traditionsbrechende Regeländerung den Tennissport ins Zeitalter der Fernsehübertragungen katapultiert hatte.

Noch in den 1960er-Jahren wirkte Van Alen, der „Newport-Bolschewist“ und damalige Präsident der Tennis Hall of Fame, dessen sportlich größte Erfolge jeweils der Zweitrunden-Einzug bei den French Open und US Open waren, wie ein Tennis-Revoluzzer. Nachdem er bemerkt hatte, dass das Tennis mit seinen traditionellen Regeln gegenüber den auf eine feste Spielzeit ausgelegten Sportarten wie Fußball und Basketball medientechnisch unterlegen war, hatte er eine Lösung gesucht, um auch ein Tennisspiel zeitlich einschränken zu können – ohne dabei eine absolute Spielzeit einzuführen. Van Alen analysierte fortan die Spiele.

In den 1950er-Jahren hatte er angemerkt, dass es doch eine „aufregendere Art geben musste, die Länge der Spiele ohne diese verdammten Einstandssätze zu kontrollieren“. Schon 1958 entstand so seine Idee des Tiebreaks. Van Alen begann, diesen Tiebreak und weitere Regeländerungen bei einem von ihm veranstalteten Rasentennisturnier im Newport Casino aktiv zu bewerben . Er nannte es „VASSS“, Van Alen Streamlined Scoring System. Die Sports Illustrated erkannte bereits damals, dass das VASSS das Potenzial habe, eine „neue Vitalität in ein Spiel zu pumpen, das offensichtlich viel an Zuschauerresonanz einbüßt“.

1963 veränderte Van Alen seinen Tiebreak in einen Best-of-Nine-Modus. Fünf Punkte reichten, um den Tiebreak für sich zu entscheiden. 1965 gab es mit der neuen Variante und Profispielern wie Rod Laver im Newport Casino die zweite Generalprobe.

Trotzdem dauerte es bis zum Jahr 1970, bis Van Alen mit seiner Tiebreak-Idee der Durchbruch gelang. Ein Grund: Die Open Era und der damit einhergehende Wunsch, das Vermarktungspotenzial des Tennissports endlich auszuschöpfen. So übernahm die ITF noch im gleichen Jahr den Tiebreak offiziell in ihr Regelbuch, sodass die US Open im Sommer als erstes Grand-Slam-Turnier beim Stand von 6:6 einen Tiebreak spielen ließ. Fünf Jahre später folgte die Einführung des Tiebreak-Modus in seiner heutigen Form. Lange Zeit blieb dies die einzige Änderung der Zählweise im Tennis.

Der Tiebreak als Anfang: BESSERE Vermarktung verlangt spektakulärere Regeln

Doch plötzlich schien das Tennis wieder genau dort angekommen zu sein, wo es sich schon einmal Ende der 1960er-Jahre befunden hatte: So fragten sich sowohl die ITF als auch die Spielerverbände ATP und WTA erneut vor einigen Jahren, wie sie die Zuschauer ans Tennis binden und die Medienpartner glücklich machen könnten. Während die Vermarktung der Einzel auch dank Van Alens revolutionärem Tiebreak-System seit 1970 lange Zeit gut funktioniert hatte, machte der ATP mittlerweile eine andere Spielform große Sorgen: das Doppel – das schließlich ab Anfang der 2000er den nächsten Regel-Tsunami auslöste.

Als 1970 Bill Talbert, der damalige Turnierdirektor der US Open, den Tiebreak bei Grand Slams rechtfertigte und sagte, „Spieler kaufen keine Tickets“, meinte er wohl eher: Die Zuschauer sind es, die die Preisgelder finanzieren, also sollte ihnen auch etwas geboten werden. Das galt im neuen Jahrtausend wohl vor allem fürs Doppel.

Lange Zeit nämlich spielten sich die spektakulären Netzduelle im Doppel in gewisser Weise auf den Nebenschauplätzen ab. Doch sowohl die ATP als auch die Spieler selbst wollten die Popularität dieser besonderen Tennisvariante steigern. Die Entscheidung der Funktionäre war klar: Die Fans sollten noch mehr Spektakel sehen – egal ob zu Hause vor dem Fernseher oder als Zuschauer auf den Tribünen der besten Plätze der Welt, den sogenannten Show Courts.

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"Die Regel ist gut fürs Fernsehen"

Erneut stellte sich also die Frage: Wie kann der Tennisverband die Wünsche der Zuschauer und Partner erfüllen? Der Ansatz: mehr Spannungsmomente, kürzere Partien und bessere Vorhersage. Während mehr Spannungsmomente vor allem mehr Zuschauer zu den Doppeln locken sollten, sollten kürzere Partien mit geringeren zeitlichen Schwankungen die Fernsehpartner ansprechen. Die Idee: Ist die Länge einer Doppelpartie besser vorhersehbar und weniger volatil, könnten Medienpartner die Übertragung besser planen – und Turnierdirektoren die Doppel auf den Hauptplätzen austragen. Diese Ansätze führten die ATP schnurstracks zu ihrer Lösung, die schon lange Zeit auf ihrem Silbertablett lag: die No-Ad Scoring Method.

Was sich kompliziert anhört, versteckte sich seit den 1960er-Jahren in Jimmy Van Alens Schublade und ist eigentlich ziemlich simpel: „No Ad“ – eine Abkürzung von „No Advantage“ – revolutionierte die Tenniszählweise erneut. Statt „40:40 – Deuce“ brummte es nun „40:40 – Deciding Point, Receiver’s Choice” durch die blechernen Mikrofone. So gab es statt eines Einstands einen Entscheidungspunkt, und es entstand eine Situation, in der es Spiel- und Breakball zugleich gibt.

Genau das war dieser Spannungsmoment, den die ATP kreieren wollte – weiter gesteigert dadurch, dass im Doppel das returnierende Paar entscheiden darf, von welcher Seite ihre Gegner denn nun aufschlagen sollen.

Die Regel ist gut fürs Fernsehen“, sagte die schweizerische Tennisspielerin Martina Hingis vor einigen Jahren der New York Times.

Und Doppelspieler Bruno Soares ergänzte: „Die traditionelle Zählweise kann für die Fans manchmal ein wenig langweilig sein. Die No-Ad-Regel beseitigt die toten Punkte, den Einstand, bei dem niemand gewinnen kann.“

Mit dem Start ins Turnierjahr 2006 führte die ATP schließlich das besagte No-Ad Scoring auf der ATP Doppel-Tour ein. In gewisser Weise war das auch ein Geschenk an Jimmy Van Alen. Bis zu seinem Tod 1991 soll der Tennis-Revolutionär moniert haben, dass man den Einstand nach den offensiven Werbeattacken seines VASSS-Systems doch noch zurück ins Tennis geschmuggelt habe. Doch zumindest im Doppel ist er nun Geschichte. Länger schon war das im Sommer in den USA der Fall: Bereits seit der ersten Saison der „World Team Tennis“-Liga (WTT) 1974 spielten die Spieler dort mit Entscheidungspunkt statt Einstand. 2016 zog auch die Division 1 der US-amerikanischen College-Liga NCAA nach.

No-Ad ist nicht genug: Auch das Einzel wird reformiert

Allein, die No-Ad-Regel reichte der ATP 2006 nicht. Vor allem den dritten, nur manchmal zu spielenden, entscheidenden Satz machte der Verband als volatile Unwägbarkeit aus, die es zu erschweren schien, TV-Partner vom Doppel zu überzeugen. Also entschieden sie sich, diesen dritten Satz komplett zu verändern. Das Fundament eines jeden Tennissatzes wackelte heftig: Denn anstatt den Sieg Punkt um Punkt und Spiel um Spiel zu erkämpfen, geht es seit 2006 für die Spieler auf der Doppel-Tour in den Match-Tiebreak, den verlängerten Tiebreak bis zehn. 2007 tat es die WTA der ATP gleich und auch in Deutschland wird mittlerweile – nicht nur im Doppel – in den meisten Ligen der dritte Satz als Match-Tiebreak ausgespielt.

Nachdem sich die ATP also Anfang der 2000er-Jahre des Doppels angenommen und anschließend die Zählweise einmal komplett auf links gedreht hatte, wandten sich die Funktionäre kurze Zeit später erst laut und dann plötzlich fast schon unauffällig dem Einzel zu. 2006 donnerte es noch gewaltig, als die ITF beim Hopman Cup im australischen Perth erstmals die modernste Tennistechnologie aller Zeiten aufbot: das Hawk-Eye. 2007 echauffierte sich Roger Federer in Wimbledon und forderte, das Hawk-Eye abzuschaffen. Mittlerweile akzeptiert, kommt es nun bei mehr als 80 Turnieren weltweit erfolgreich zum Einsatz.

Aktuell spricht das Hawk-Eye allerdings nur dann zu den Protagonisten, wenn ein Spieler seine Challenge nutzt, also aktiv darum bittet. Doch das könnte sich bald ändern. Denn nun beginnt die Technik, die traditionellen Linienrichter zu verdrängen. Statt Linienrichtern, die „Out!“ rufen, gibt nun das Hawk-Eye dem Stuhlschiedsrichter ein Signal, der daraufhin den Ball aus gibt. Das klingt wie Zukunftsmusik – ist es aber nicht. Denn das alles ist schon passiert: bei den von der ATP neu kreierten Next Gen ATP Finals.

Dieses Turnier der besten acht Spieler unter 21 Jahren ist nicht nur das Herzensprojekt von Chris Kermode, bis Ende 2019 Chef der ATP. Es ist vor allem eines: ein Versuchskaninchen. An ihm probiert die ATP neue und neueste Regeln aus. Neben der No-Ad-Zählweise – zum ersten Mal gilt diese im Profi-Einzel – und dem Hawk-Eye Live als Linienrichter ersetzende Technologie regnet es gleich ein Regelfeuerwerk: kürzere Sätze, No-Let, Shot Clock, kürzeres Aufwärmen, Spieler-Coaching, weniger Medical Time-Outs und eine „Free Movement Policy“ für Zuschauer. „Dieses Turnier wurde nicht nur für die nächste Spielergeneration, sondern auch für die nächste Zuschauergeneration entwickelt“, sagt Kermode.

Der frühere ATP-Chef ist stolz auf seine Ideen: Die Talente spielen bei den Next Gen Finals einen Satz nun nicht mehr bis sechs, sondern drei Gewinnsätze bis vier. Steht es 3:3, kommt es zum Tiebreak. Berührt der Ball beim Aufschlag die Netzkante, so heißt es: „No Let!“ – keine Wiederholung. Es geht einfach weiter. Zudem zwingt die Shot Clock die Spieler, innerhalb von 25 Sekunden aufzuschlagen. Lange Verschnaufpausen nach intensiven Rallies oder psychologisches Zeitspiel sind damit Geschichte.

All das, so hofft die ATP, verspricht mehr Unterhaltung. Und das ist auch der Sinn hinter den Experimenten mit den größten Tennistalenten. Denn wie in den 1960er-Jahren im Einzel und zur Jahrtausendwende im Doppel, versuchen die Tennisfunktionäre den Sport noch einmal fernsehtauglicher zu gestalten – und eine neue Generation Fans aufzuziehen. Gerade für die jungen Zuschauer führte die ATP bei den Next Gen Finals daher die „Free Movement Policy“ ein. Nerviges Warten am Eingang, bis das Spiel endlich entschieden ist? Das hat mit der neuen Regel ein Ende: Auf der Haupt- und Gegengerade können sich die Zuschauer bei den Next Gen Finals frei bewegen – und das zu jeder Zeit. Das, so hört man, kommt bei den Fans an.

Neue Regeln verkürzen jedes Spiel im Doppel um elf Sekunden

Doch hat die ATP mit all ihren Regeländerungen ihre Ziele wirklich erreicht? „Ja“, schreibt die ATP auf Anfrage. Eine Analyse verschiedener Doppelmatches habe den Verantwortlichen der Tennisvereinigung der männlichen Profis gezeigt, dass allein im Juni 2006 – bereits kurz nach der Einführung der Regeln – 43 Prozent mehr Doppelspiele als sonst auf dem Centre-Court ausgetragen wurden. Für uns ist das Anlass genug, um uns die Spieldaten der letzten Jahre einmal ganz genau anzusehen – und dann die entscheidenden Fragen zu klären: Hat die No-Ad-Regel im Einzel und Doppel die Dauer eines Spiels wirklich verkürzt? Und ist damit die Matchdauer nun wirklich vorhersehbarer?

Ein erstes Indiz, dass die ATP mit der Einführung ihrer neuen Regeln Erfolg hatte, lieferte 2016 bereits die New York Times.

Sie hatte ermittelt, dass sich die durchschnittliche Matchdauer auf der Doppel-Tour im Jahr 2005 von 87,73 Minuten nach Einführung der No-Ad-Regel und des Match-Tiebreaks im Jahr 2006 auf 71,51 Minuten verringerte. Ein ähnliches Bild zeigen nun auch die Daten aus dem Jahr 2019. Doch trotzdem bleiben Fragen offen: Haben sich die Mittelwerte durch die No-Ad-Regel oder durch die Match-Tiebreaks verkürzt? Sind diese Änderungen signifikant? Und wenn ja, haben sich die für die Fernsehübertragungen so wichtigen Zeitschwankungen überhaupt verringert?

Ja, lässt sich zusammenfassen. Und das dank des Match-Tiebreaks und der No-Ad-Regel.

Schaut man sich die Daten der Doppel-Tour 2019 nun einmal im Detail an, dann fällt auf: Die Doppelpartien dauerten länger als in den Jahren 2005 und 2006. Die durchschnittliche Matchdauer in allen 1.048 Spielen mit No-Ad-Regel und Match-Tiebreak auf der Doppel-Tour 2019 betrug 77,2 Minuten. Bei den Grand Slams, den einzigen Turnieren im Doppel ohne diese neuen Regeln, standen die Spieler durchschnittlich sogar 107,58 Minuten auf dem Platz. Fairerweise sollte jedoch Wimbledon aus der Betrachtung herausgenommen werden: Schließlich spielen die Doppel dort wie die Einzel drei statt zwei Gewinnsätze. Lässt man Wimbledon außer Acht, verkürzt sich die durchschnittliche Matchdauer bei den Grand Slams 2019 auf 93,52 Minuten. Das sind jedoch noch immer etwa 16 Minuten mehr als auf der Tour.

Um nun die Auswirkungen der No-Ad-Regel und des Match-Tiebreaks statistisch zu analysieren, haben wir die Australian Open, die French Open und die US Open mit ähnlichen Turnieren auf der ATP Masters 1000 Doppel-Tour verglichen. So unterscheiden sich die durchschnittlichen Matchdauern signifikant voneinander. Während auf der Masters 1000 Tour die Spiele um etwa 20 Minuten um den Durchschnittswert schwanken, sind es bei den Grand Slams 25 Minuten.

Viel entscheidender allerdings ist die durchschnittliche Dauer pro Spiel. Wie die Grafik zeigt, ist dieses Ergebnis eindeutig: Die No-Ad-Regel verkürzt ein Spiel signifikant von 3 Minuten und 52 Sekunden bei Grand Slams um etwa elf Sekunden auf gut 3 Minuten und 41 Sekunden bei Masters-1000-Turnieren. Auch die Schwankungen um diese Werte nehmen von 22 auf 20 Sekunden ab.

Die ATP hat es also geschafft, die Partien auf der Doppel-Tour nicht nur zu verkürzen. Auch die Zeiten variieren nicht mehr so stark, wie sie es mit den alten Regeln tun. Doch dass die ATP gerade die Matchdauer besonders stark verkürzen konnte, lag nicht an der No-Ad-Regel, sondern vielmehr am Match-Tiebreak. Gäbe es diesen nicht, wären die Partien durchschnittlich nur viereinhalb Minuten kürzer.

Geringere Schwankungen und neun Minuten kürzere Matches im Einzel

Nichtsdestotrotz – ein ähnlich effektives Bild zeichnen die Daten aus den Jahren 2017 bis 2019 auch für die Regeländerungen im Einzel. Vergleicht man die Ergebnisse der Next Gen Finals aus diesen drei Jahren mit dem vergleichbaren ATP Masters 1000 Paris, so fällt auf, dass sich die Matchdauer von 101 Minuten um neun auf 92 Minuten verringert hat. Das ist – vermutlich wegen eines fehlenden Match-Tiebreaks – zwar ein geringerer Unterschied als auf der Doppel-Tour, doch dafür schwanken die Zeiten mit 23 statt 32 Minuten nun um einiges geringer um diese Werte.

Wenn wir nun wieder auf die durchschnittliche Zeit pro Spiel schauen, zeigt sich in der Grafik deutlich, dass die No-Ad-Regel und die Shot Clock weniger Rallies zulassen – einfach, da es keinen Einstand mehr gibt. Dauerte bei den ATP Masters 1000 in Paris ein Spiel durchschnittlich nahezu 4 Minuten und 12 Sekunden, so verkürzte sich diese Zeit bei den Next Gen Finals signifikant um fast 15 Sekunden auf 3 Minuten und 57 Sekunden. Besonders beeindruckend: Die Abweichungen um diese Werte nahmen von 29 auf 18 Sekunden ab. Dank der neuen Regeln könnten Veranstalter und Medienpartner nun ziemlich genau schätzen, wie lange ein Spiel dauert.

Doch selbst wenn die Zahlen für die ATP und ihre Ideen sprechen: Die große Kritik bleibt, dass die No-Ad-Regel und verkürzte Sätze das Spiel unfairer machten. So setze sich beispielsweise bei langen Einstand-Rallies mit andauernder Spielzeit irgendwann die Qualität durch, heißt es immer wieder. Die No-Ad-Regel hingegen sei wie ein Roulette-Spiel. Mit einem glücklichen Return könne der schlechtere Spieler unerwartet das Break schaffen. So stellte auch Andrey Rublev nach der ersten Ausgabe der NextGen Finals im Jahr 2017 fest, dass mit „Sätzen bis vier und No-Ad Scoring“ das Spiel komplett verändert sei. „So kann jeder jeden schlagen.“

Es ist eine Angst, die an die 1960er-Jahre erinnert. Damals fürchteten die Spieler Ähnliches, als Jimmy Van Alen seinen Tiebreak bewarb. So hieß es zu der Zeit aus Spielerkreisen, dass endlose Sätze für die Zuschauer zwar vielleicht eine Qual seien, aber letztlich machten sie das Spiel zu einem faireren Wettbewerb der Fähigkeiten.

Heute ist der Tiebreak akzeptiert und im Tennis angekommen. Und auch die neuen Regeln könnten, schaut man auf die Datenauswertung, am Ende vielleicht wirklich genauso fair oder unfair wie die gewöhnliche Zählweise sein: Gewann bei den ATP Masters 1000 Paris in rund 65 Prozent der Spiele der zu jener Zeit im ATP-Ranking höher platzierte Spieler, traf das bei den Next Gen Finals sogar auf 70 Prozent der Fälle zu. Eine ausgeglichene Bilanz also, die statistisch keine signifikanten Unterschiede aufweist. Und dennoch: Gerade aufgrund der No-Ad-Regel ist es denkbar, dass der an diesem Tag bessere Spieler die Partie unglücklich verliert. Ganz einfach, weil der Gegner zuvor den wichtigen Entscheidungspunkt dank eines Rahmentreffers gewinnen konnte – und sich damit das psychologisch so wichtige Momentum gedreht hatte.

Daher ist es letztlich auch nicht verwunderlich, dass die Tennisfunktionäre die Next Gen Finals ganz genau beobachten. Das zeigte sich erstmals nach der Premierenausgabe 2017. Nur wenige Tage nach dem Finale verkündeten die Grand-Slam-Regelhüter, dass bei den Australian Open 2018 zum ersten Mal die Shot Clock eingeführt werde. Auch die ITF schien begeistert. Sie übernahm ab der Saison 2018 die No-Let-Regel auf der Nachwuchs-Tour.

Eine signifikant verkürzte Matchdauer, eine kürzere Zeit pro Spiel und eine geringere Abweichung vom Mittelwert – kein Wunder also, dass die ATP mit ihren Experimenten zufrieden ist. Die Regeländerungen haben im Doppel „die gewünschten Effekte gezeigt“, schreibt die ATP auf Nachfrage. „Die Fans lieben die ‚Sudden Death‘-Punkte in den Spielen und den Match-Tiebreak.“ Alles lief, wie es laufen sollte.

Ähnlich sehen das auch viele Vertreter des US-College-Tennis. „Die No-Ad-Regel hat die Matches verkürzt“, sagte Peter Smith, damals Cheftrainer des Männerteams der University of Southern Carolina, zwei Jahre nach der Einführung derselben. „Doch vor allem – und das ist noch viel wichtiger – hat sie die Matches aufregender gemacht. Es gibt mehr Zuschauer, und alle bleiben bis zum Schluss.“

Am Ende bleibt also die Frage: Rechtfertigt die zweifellos geringere Volatilität der Spielzeit, dass am Ende vielleicht doch ein mit dem Schlägerrahmen getroffener Return das Spiel entscheidet? Die nächsten Jahre werden es zeigen.

Hier findest Du unsere Auswertung

Du willst unsere Auswertung der Einzel- und Doppelspiele verstehen? Dann lade Dir das Excel-Dokument mit einem Klick hier herunter:

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Jimmy Van Alen: Darum gibt es das No-Ad Scoring

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